Desinformation

Desinformation
Die von Politik und Medien betriebene Diskussion über die Euro-Krise trägt oft mehr zur Vernebelung als zur Erhel-lung von Fakten und Risiken bei. Der Bürger fühlt sich durch die Vielfalt an Zahlen, Deutungen, Thesen und Inter-pretationen zunehmend überfordert – und wendet sich mit Grausen ab. Ge-nau dieser Desinformations-Effekt ist einigen Spin-Doktoren wie dem Leiter der Euro-Gruppe und dem EZB-Präsidenten wohl nicht unlieb.

Anders ist die dreiste Ansage von Jean Claude Juncker („Wenn es kein Geschrei und keine Aufstände gibt, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlos-sen wurde, machen wir weiter“) nicht zu verstehen.

Makulatur
Der noch im Frühsommer von der Bundesregierung vermittelte Eindruck, das griechische Fass ohne Boden nicht weiter füllen zu wollen, ist dem offen-kundigen Vorsatz zum bedingungslo-sen und unlimitierten Weiterretten gewichen. Die hellenische Regierung nimmt diese „Augen zu und durch“-Politik zum Anlass, um die Realisierung der von ihr zugesagten Reformen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu ver-schieben. Sie verlässt sich darauf, dass ihr wegen der viel beschworenen Do-mino-Stein-Theorie keine echten Sank-tionen drohen. Und diese Erkenntnis nimmt auch von den anderen Nehmer-ländern jeglichen Reformdruck. Der von Kritikern mit „Europäischer Schul-den-Mechanismus“ übersetzte neue Rettungsschirm ESM wurde von inte-ressierter Seite schon als unzureichend bezeichnet, bevor er überhaupt in Kraft getreten ist. Abenteuerliche He-bel-Konzepte würden die deutschen Risiken ins Unermessliche steigen las-sen. Der Maastricht-Vertrag ist in we-sentlichen Punkten durch die vorsätzli-chen und ungeahndeten Verstöße zu Makulatur geworden.

Tarnen und Täuschen
Die EZB ist offensichtlich finster ent-schlossen, durch den unbegrenzten Ankauf „fauler“ Staatsanleihen alle Versuche, das Schulden-Chaos einzu-grenzen, zu konterkarieren. Und die Hoffnung, die Deutsche Bundesbank werde notfalls per Klage vor dem Eu-ropäischen Gerichtshof gegen diese verdeckte Staatsfinanzierung vorge-hen, erscheint ebenso begründet wie die Annahme, dass der Eurogruppen-Chef („Wenn es ernst wird, muss man lügen“) bei seinen Winkelzügen zur Durchsetzung der irreversiblen Trans-fer- und Schuldenunion noch Rücksicht auf deutsche Interessen nimmt.

Mehrheitswille
Die Akzeptanz des Euro in der deut-schen Bevölkerung stürzt weiter ab. Sieben von zehn Bürgern meinen, dass Deutschland mit der DM besser da-stünde. Der großen Koalition der Euro-Fans gehen allmählich die Beschöni-gungen aus. Um sich der Nachprüfbar-keit der Argumentation zu entziehen, werden vorrangig „politische“ Thesen im Stil der tibetanischen Gebetsmühle bemüht. („Der Euro ist eine Frage von Krieg und Frieden“. Oder: „Fällt der Euro, fällt Europa“.) Bisher scheint es zu gelingen, das Scheitern der Gemein-schaftswährung durch dumpfe Angst-macherei zu vernebeln. Noch wäre Zeit, die auf Sicht existenzbedrohende Schuldenspirale durch geordnete Aus-tritte aus der Eurozone zu durchbre-chen. Noch besteht die Freiheit, sich für das im Sinne des Mehrheitswillens kleinere Übel zu entscheiden. Je länger diese Entscheidung verzögert wird, desto teurer werden die Konsequen-zen für die Bundesrepublik. Und umso mehr wächst die Gefahr, dass das un-kalkulierbare Euro-Abenteuer letztlich auch hierzulande zu Staatsbankrott, Währungsreform und sozialen Unru-hen führen wird. Der ehrlichste Weg wäre ein Volksentscheid. Weil der Ausgang absehbar ist, werden Merkel, Schäuble, Rösler, Gabriel, Roth & Co. alles tun, um dieses urdemokratische Verfahren zu verhindern.

Verfassungshüter
Eine desillusionierende Zwischenbilanz zieht ein emeritierter Verfassungs-rechtler nach der Urteilsverkündung des BVerfG zum ESM im vertrauten Gesprächskreis. Die Gewaltenteilung als demokratisches Grundprinzip wer-de zunehmend ausgehöhlt. Wenn die Exekutive, also die Bundesregierung, in euromantischer Verblendung nach-haltig gegen ihren Amtseid, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, verstoße, so sei dies in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartig. Wenn die Legislative, also der Bundestag, immer neue „Rettungsprogramme“ zulasten der Steuerzahler nahezu kri-tiklos durchwinke, so denaturiere sich das Parlament zur willfährigen Abnick-veranstaltung. Wenn sich aber selbst die Judikative, also hier das Bundes-verfassungsgericht, ihrer zentralen Verpflichtung, das Grundgesetz zu schützen, aus Angst vor den von der Politik heraufbeschworenen Weltun-tergangsszenarien entziehe, dann sei Deutschland auf dem Wege zur Bana-nenrepublik. Niederschmetternd sei dabei vor allem die Erkenntnis, dass die Rücksicht auf politische Konse-quenzen den höchsten Richtern wich-tiger sei als eine unabhängige Urteils-findung. Wenn die Folgenabwägung zur Vernachlässigung zentraler Rechtsgrundsätze führe, dann hebele sich die höchstrichterliche Rechtspre-chung selbst aus. Vorwegeilender Ge-horsam und politischer Opportunismus im Sinne einer europäischen Political Correctness ersetzen – so der Profes-sor – das frühere Selbstverständnis der Verfassungshüter. Damit stelle sich der Rechtsstaat auf Sicht in nie gekannter Weise in Frage. Vor diesem Hinter-grund ergäben sich neue Fragen nach der Legitimation des Berufungssys-tems und Ernennungsverfahrens der Verfassungsrichter, die bekanntlich auf ebenso verschlungenen wie parteipoli-tischen Wegen in Amt und Würden kommen.

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