Dramatischer Appell

Über 170 deutschsprachige Top-Ökonomen haben am 6. Juli in einem dramatischen Appell die Bevölkerung aufgerufen, die Beschlüsse des letzten EU-Gipfels nicht mitzutragen. Die Wis-senschaftler warnen vor allem vor einer europäischen Bankenunion, die auf eine kollektive Haftung für die Bankschulden im Eurosystem hinaus-laufe.

Die Bankschulden seien fast dreimal so hoch wie die Staatsschul-den und lägen bei den fünf Krisenlän-dern im Bereich von 9 Billionen Euro. Wörtlich heißt es: „Es ist schlechter-dings unmöglich, die Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder für die Absicherung dieser Schulden in die Haftung zu nehmen“. Und die Professoren sehen ein düsteres Szenario: „Wenn die soli-den Länder der Vergemeinschaftung der Haftung für die Bankschulden grundsätzlich zustimmen, werden sie immer wieder neuen Pressionen aus-gesetzt sein, diese Summen zu vergrö-ßern. Damit sind Streit und Zwietracht mit den Nachbarn vorprogrammiert. Noch unsere Kinder und Enkel werden darunter leiden“. Außerdem werde weder der Euro noch der europäische Gedanke durch die Erweiterung der Haftung gerettet, sondern vor allem die Wall Street, die City of London und eine Reihe maroder ausländischer Banken. Im Februar 2011 hatten sich übrigens schon einmal 189 Volkswirt-schaftsprofessoren öffentlich gegen die damalige Ausweitung des Ret-tungsschirms und gegen einen dauer-haften Rettungsmechanismus ausge-sprochen.

Frage der Konsequenz
Solange sie lebe, werde sie Euro-Bonds nicht zustimmen, soll die Bun-deskanzlerin am 27. Juni vor der FDP-Bundestagsfraktion versprochen ha-ben. Nur einen Tag später ließ sie sich von den Ministerpräsidenten Italiens und Spaniens in Brüssel zu weitgehen-den Abweichungen von der bislang vertretenen deutschen Regierungslinie nötigen. „Focus-Money“ kommen-tiert: „Länder mit ‚guter Haushaltsfüh-rung’ (ein dehnbarer Begriff) können bald Unterstützung der Rettungs-schirme EFSF und ESM erhalten. Ohne neue Auflagen. Die Staaten müssen nur bereits früher gegebene Zusagen erfüllen. Keine Troika-Experten reisen in die Länder. ‚Das ist kein Programm, wie es Griechenland, Irland oder Por-tugal haben’, triumphiert Italiens Pre-mier Monti. Wenn das Geld der Schir-me nicht reicht, wird halt das ESM-Kapital aufgestockt. Wer das hat, braucht keine Euro-Bonds.“ Und der frühere EU-Kommissar Verheugen (SPD) merkt an, die Kanzlerin sei an diesem Abend von dem italienischen Premier „über den Tisch gezogen und betrogen worden“.

Belastungsgrenze erreicht
Der Chefökonom der Commerzbank hat vor einer Überforderung Deutsch-lands im Zuge der Euro-Rettung ge-warnt. Die Bundesrepublik habe den beiden Hilfsfonds EFSF und ESM zu-sammen bereits Garantien von rund 400 Mrd. Euro gegeben, was zwei Drittel der jährlichen Steuereinnahmen entspreche. Außerdem sei die Bundes-bank im Rahmen des EZB-Zahlungsverkehrssystems Target ge-zwungen worden, den Zentralbanken der Krisenländer ungesicherte Kredite in Höhe von 730 Mrd. Euro zu gewäh-ren. Der Ökonom hält die gesamte Politik für falsch: „Die sogenannten Rettungspakete können die Wäh-rungsunion nicht retten. Sie können bestenfalls Zeit kaufen und schlechtes-tenfalls Reformdruck von den Peri-pherieländern nehmen.“ Letztlich sei die Staatsschuldenkrise nur von den Krisenländern selbst zu bewältigen.

Black Box
Die 350 größten deutschen Familien-unternehmen hatten die Bundestags-abgeordneten mit ihrer „Berliner Er-klärung“ aufgefordert, dem ESM ihre Zustimmung zu verweigern. Mit die-sem erneuten Rettungskonstrukt wür-den – zusätzlich zu den bereits beste-henden Verpflichtungen – weitere Finanzrisiken in Höhe von 700 Mrd. Euro begründet, ohne die deutschen Interessen ausreichend zu berücksich-tigen. Die Stiftung meint, dass die Par-lamentarier den Überblick längst ver-loren hätten. In Luxemburg entstehe mit dem ESM eine „riesige Black Box“. Dagegen hat der BDI-Präsident den europapolitischen Kurs der Kanzlerin nahezu kritiklos verteidigt. Mit Blick auf die „Berliner Erklärung“ sprach er von „populistischen Spekulationen und Mutmaßungen“, was die meisten deutschen Unternehmer als wenig hilfreich empfunden haben dürften. Dazu der frühere BDI-Präsident Hein-rich Weiss: „Für angestellte Unter-nehmenschefs, die vielfach nur noch in Fünfjahreszeiträumen denken wie die meisten Politiker, mag die Haltung des BDI zur Euro-Krise opportun sein. Für selbstständige Unternehmer, die in Generationen denken, ist eine Haftung ohne Schadensbegrenzung unverant-wortlich.“

Außer Kontrolle
Die absehbare „Rettung“ von Spanien und Italien wird das jetzige ESM-Volumen weit überfordern. Spanien hat nach offiziellen Angaben bis 2014 einen Refinanzierungbedarf von 285,7 Mrd. Euro, Italien benötigt über 570 Mrd. Euro. Hinzu kommt der Kapital-bedarf spanischer Banken von bis zu 156 Mrd. Zählt man das noch unbe-kannte, für italienische Banken erfor-derliche Volumen hinzu, so dürfte sich der Gesamtbedarf nur für die beiden genannten Länder auf über 1,2 Billio-nen Euro summieren. Es ist daher ab-sehbar, dass der ESM, der bisher „nur“ über 700 Mrd. Euro verfügt, schon sehr bald – in weitgehend autarker Entscheidung – zusätzliche Mittel bei den verbleibenden Geberländern, also vor allem bei der Bundesrepublik abru-fen wird. Die Eigendynamik dieser Entwicklung ist erschreckend. Das System gerät außer Kontrolle.

Related Articles