Künftige Historiker-Generationen werden wohl darüber rätseln, was Deutschland im Herbst 2015 zu einer radikalen Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik veranlasst hat.
Einigkeit dürfte allenfalls in der Erkenntnis bestehen, dass nie zuvor eine demokratisch gewählte Regierung ohne Rücksicht auf die „Volksmeinung“ – quasi im Küchenkabinett – einen so tiefgreifenden Paradigmen-Wechsel eingeleitet hat. Auch die Medien tun sich derzeit schwer, Motive zu erkennen und Konsequenzen zu identifizieren. Die FAZ versucht, in einem Kommentar den Polit-Rätseln auf den Grund zu gehen: „Die Kanzlerin hat eine epochale Kurswende eingeleitet, ohne sie zu erklären, wahrscheinlich, ohne sie zu überschauen. Ihr Alleingang setzt eine Kettenreaktion frei, an deren Ende der ‚Zerfall‘ der EU stehen kann. Die als ‚Migrationschaos‘ wahrgenommene Situation befeuert allerorten den Populismus, der Europa noch unregierbarer machen wird. Ein Ausstieg Großbritanniens ist nun wahrscheinlicher als je zuvor. Zugleich zwingt die Lage zu außenpolitischen Zugeständnissen, für die es im Club der 28 wenig Sympathien gibt. Der türkische Autokrat Erdogan darf jetzt auf Hilfen hoffen, die man nicht gewähren wollte, als es um die Demokratie am Bosporus noch besser bestellt war. Wenn Merkel den Türken Visa-Erleichterungen in Aussicht stellt, betrifft das ganz Europa.“