Unwort des Jahres?
Insbesondere bei Reden vor Wirt-schaftsverbänden hat die Bundeskanz-lerin immer wieder darauf hingewie-sen, dass Europa 7 % der Weltbevölke-rung ausmache, etwa 25 % des globa-len Bruttosozialprodukts erwirtschafte und damit 50 % der weltweiten Sozial-kosten finanzieren müsse. Und sie zog stets folgende (rhetorische) Konse-quenz: „Wir alle müssen aufhören, jedes Jahr mehr auszugeben als wir einnehmen.“
Diese überfällige Er-kenntnis ist offenbar beim Aushandeln des schwarz-roten Koalitionsvertrags unter den Tisch gefallen. Allein die offizielle Erhöhung der Staatsausga-ben beläuft sich auf 23 Mrd. Euro. Der Bund der Steuerzahler hat die Neigung von Union und SPD kritisiert, noch mehr soziale Wohltaten zu verteilen, um ihre jeweiligen Kernzielgruppen glücklich zu stimmen. Sparen scheint zumindest bei Politikern zum Unwort des Jahres zu werden.
Gegen die Agenda
Der Sachverständigenrat zur Begut-achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat vor den Plänen der großen Koalition gewarnt. Sie seien geeignet, die in Deutschland erreich-ten Reformen der letzten Jahre zunich-te zu machen. Mit Mindestlohn und Mietpreisbremse versuche man, „ge-wünschte Marktergebnisse gesetzlich zu erzwingen“. Und „Wohltaten“ wie höhere Mütterrenten und Rentenauf-stockungen gingen zu Lasten kom-mender Generationen. Die fünf Wirt-schaftsweisen befürchten, dass Schwarz-Rot die Errungenschaften einer flexibleren Wirtschaft und re-formierter Sozialsysteme durch die Agenda 2010 zurückdrehen wolle. Klar ist: Der Weg vom „kranken Mann“ zum „Kraftwerk“ Europas ist keine Einbahnstraße.
„Vertane Chance“
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht im Koalitionsvertrag über-wiegend Maßnahmen, die die Wert-schöpfung am Standort Deutschland belasten: „Der Arbeitsmarkt wird infle-xibler, die Sozialabgaben steigen, die Rentenkasse wird ohne Not belastet und die Rente mit 67 durchlöchert.“ Auch die Energiewende werde mit höheren Ausbauzielen forciert, statt den „Subventionswahnsinn des Erneu-erbare-Energien-Gesetzes“ zu been-den. Die „Welt“ bewertet die Verein-barungen als ein „verheerendes Signal für Europa“. Die neue Regierung pre-dige den Krisenländern oberlehrerhaft Austerität, mäste aber weiter den ohnehin drallen deutschen Sozialstaat, statt ihn auf Diät zu setzen. Diese Koa-lition sei der kleinste gemeinsame Nenner dreier Partner. Dabei böte die Machtfülle im Bundestag und Bundes-rat die Basis, um die drängenden Her-ausforderungen der Zukunft anzu-packen. Der BDI-Präsident sprach in dem Zusammenhang von einem „Sig-nal für Stillstand statt Aufbruch“ und einer „vertanen Chance für Deutsch-lands Zukunft“.
Unter Verschluss
Als Staatsgeheimnis behandelt das Bundesfinanzministerium die Kosten und Konsequenzen, die sich aus dem Koalitionsvertrag ergeben. So werden die Berechnungen der Fachleute, de-nen zufolge der Mindestlohn und ren-tenpolitische Vorhaben 1,5 bis 1,8 Mio. Arbeitsplätze gefährden, unter Verschluss gehalten. Die daraus resul-tierenden Einnahmeausfälle und Zu-satzausgaben sollen sich für das Jahr 2017 auf 48,5 Mrd. Euro belaufen. Der Bundesfinanzminister hat mit Blick auf die Warnungen der Wirtschaftsweisen, dass die Ausgabenpläne nicht seriös finanziert seien, in gewohnt überzeu-gender Manier behauptet: „Wir haben das alles solide gerechnet.“ Zum haus-internen Geheimhaltungserlass hat er sich dagegen nicht geäußert.
Total Tax Rate
Auch ohne die „Segnungen“ der neuen Koalitionsregierung hat der unterneh-merische Mittelstand hierzulande ge-nügend Sorgen. Ein Grund ist die Tat-sache, dass Deutschland im internati-onalen Steuerwettbewerb zurückge-fallen ist. So ist die Abgabenlast für mittelständische Unternehmen gestie-gen, während sie im weltweiten Durchschnitt zurückgegangen ist. Das hat eine Untersuchung von PWC und der Weltbank ergeben. Danach hat sich der Anteil aller Steuern und Abga-ben („Total Tax Rate“) am Gewinn – in nur einem Jahr – von 46,8 auf 49,4 % erhöht. Im globalen Durchschnitt sank die Belastung dagegen von 44,7 auf 43,1 %. Deutschland ist dadurch im internationalen Vergleich vom 72. auf den 89. Rang zurückgefallen.
Strategie & Taktik
Nach Meinung der „Bild“-Zeitung hat sich die SPD in den Koalitionsverhand-lungen gegenüber CDU/CSU mit 10:2 bei ihren Kernforderungen durchge-setzt. Dabei haben Gabriel & Co. of-fenbar strategisch geschickt aus der Not der Mitgliederbefragung eine Tugend gemacht. Das Gespenst einer Ablehnung des Koalitionsvertrages durch die SPD-Mitglieder wurde immer wieder gezielt instrumentalisiert, um die Verteidigungslinie der Union zu durchlöchern. Außerdem hat die Opti-on „R2G“, also eine rot-rot-grüne Koalition, den Widerstandsgeist der Unions-Granden geschwächt. Festzu-halten ist, dass der Koalitionsvertrag die Ergebnisse der Bundestagswahl auf den Kopf stellt. Der Junior-Partner agiert nicht nur als Kellner, sondern auch als Koch. „Focus Money“ forder-te vor diesem Hintergrund: „Lieber Neuwahlen statt diese Murks-Koalition.“ Die nächsten Monate wer-den zeigen, ob sich CDU und CSU – aus Gründen des Machterhalts – auf eine Zuträgerrolle beschränken wollen und können. Und: Intime Kenner der Berli-ner Gemengelage gehen davon aus, dass die SPD in etwa zwei Jahren eine Sollbruchstelle suchen und finden wird, um dann als Regierungspartei die heimliche Wunschkoalition mit den Grünen und Linken einzugehen.